Oktober 2010
Freiheit und Lenkung 3
Rache oder Transparenz?
Je mehr ein Verbrechen das Volksempfinden verletzt, desto mächtiger wird der Ruf nach Rache. Im Extremfall wird ein Angeklagter bei einem öffentlichen Schauprozess beschimpft, abgeurteilt, verletzt und grausam getötet. Vielen Menschen fällt es schwer auf solche spannenden Rituale zu verzichten.
Rache oder Aufarbeitung?
Es ist unklug von Rache und verdienter Strafe zu sprechen ohne genau hin zuschauen welches Resultat damit erreicht wird. Die tatsächliche Wirkung der „rächenden Gerechtigkeit“ kann am Beispiel der Pädophilie dargelegt werden: Die meisten Fälle von Pädophilie passieren innerhalb eines Familienkreises. Vielmals gibt es dabei eine Übergangszeit von erlaubten Vertraulichkeiten bis zur eigentlich kriminellen Tat und oft folgt dann eine Jahre andauernde Ausübung des Verbrechens. Dabei bildet sich ein Kreis von Leuten, die etwas ahnen oder wissen, aber nichts dagegen tun. Warum ist das so? Das Kind weiss dass es etwas riesiges lostritt, wenn es an die Öffentlichkeit geht. Es hat Angst. Die Mutter will den Ernährer der Familie oder den Liebhaber nicht verlieren. Deshalb wird sie vielleicht nichts tun. Es gilt als wichtig den guten Ruf, die sogenannte Familienehre zu bewahren. Auch die weiteren Verwandten und Bekannten fürchten einen Skandal.
In grösseren Beziehungskreisen wie Schule, Sportverein und Kirche werden die Jugendleiter und die Institution oft zu Lasten der Kinder geschützt. Man kann sagen: Durch hartes Vorgehen gegen Pädophile werden Gründe geschaffen, deretwegen Mitwisser die Pädophilie verdecken und verschleiern und damit kriminelle Taten begünstigen. Dies ist eine Katastrophe.
* Die Angst vor negativen Konsequenzen kann den Schutz bilden unter dem das Verbrechen ermöglicht und fortgesetzt wird.
Das widerspricht unserem Ziel, deshalb:
* Wenn wir einen optimalen Schutz vor dem Verbrechen wollen, müssen wir uns von Rachegedanken komplett lösen und mit Delinquenten so umgehen, wie man das tun muss um einen optimalen Schutz des Individuums und der Gesellschaft zu erreichen.
* Neutrale Anlaufstellen sind nötig, bei denen Kinder, verunsicherte Personen und Mitwisser fachgerechte Beratung erhalten, ohne dass sie sich dabei blossstellen müssen.
* Vertreter des Gesetzes sollten schon bei geringeren Verstössen aktiv werden, aber weichere Massnahmen beschliessen, damit die Beteiligten lieber reden und deshalb mehr Verbrechen verhindert werden können.
Tragische Veranlagung
Eine charakterliche oder erworbene fatale Neigung hat mit Böswilligkeit kaum etwas zu tun. Wir müssen Leute mit fatalen Neigungen akzeptieren und soweit vernünftig in die Gesellschaft integrieren. Die Gesellschaft muss aber Regeln aufstellen und Grenzen setzen. Es wäre unmenschlich alle fatalen Neigungen komplett zu unterdrücken. Bei sexuellen Neigungen würde das sowieso nicht funktionieren. Therapien können die Probleme verkleinern und darum eine wertvolle Hilfe sein. Wir müssen auch die Frage nach Ersatzhandlungen stellen. Welche unschädlichen Ersatzhandlungen sind möglich? Was schadet nicht? Was ist zu risikoreich? Wenn ein Pyromane in einem Videospiel ganze Städte abfackelt, dann leidet die Gesellschaft darunter nicht. Wenn es einem tragisch Veranlagten hilft eine Strohpuppe zu ermorden, so soll er lieber das tun als einen Menschen umzubringen. Schön oder widerlich ist nicht Sache des Gesetzgebers. Schädlich oder nicht schädlich für andere ist Sache des Gesetzgebers.
Gibt es die gerechte Strafe?
Ein Delinquent muss für einen Mord im Affekt einige Jahre ins Gefängnis. Das will heissen: er wird mehrere Jahre in einer Atmosphäre von Frustration und Kriminalität verbringen. Wird er nach diesen Jahren der Desozialisierung in die Freiheit entlassen, so ist er nachher wahrscheinlich agressiver, unausgeglichener und gefährlicher als er vorher war. So kann eine für die Gesellschaft teure und wie wir sagen „gerechte“ Gefängnisstrafe die Rückfallquote erhöhen.
Beim Wiederholungstäter muss ein Gericht über eine Begrenzung der Freiheit oder über eine Verwahrung entscheiden. Wenn eine Massnahme als Rache oder als Strafe eingestuft wird, dann zögert das Gericht ein solch tief greifendes Urteil auszusprechen. Wenn eine Einschränkung der persönlichen Freiheit als Schutz der Gesellschaft, im Sinne einer „Überweisung des Täters auf eine Insel wo seine Straftaten nicht möglich sind“, angesehen wird, dann wird das Gericht eher eine solche Massnahme verordnen. Dem Täter werden dadurch Gelegenheiten zu kriminellen Taten entzogen.
Den Täter der schreckliche Dinge tut die wir nicht verstehen lehnen wir ab. Er wird hart bis exemplarisch bestraft, auch wenn seine Möglichkeiten anders zu handeln von seiner persönlichen Struktur aus eingeschränkt sind. Der Täter aber, der Dinge tut, die wir auch gerne selber tun würden, befindet sich im Bereich den wir emotionell verstehen und akzeptieren. Dieser Täter wird üblicherweise milde beurteilt, auch wenn die Folgen seiner Taten um vieles weiter reichen als beim verachteten Triebtäter. Er hat vielleicht eine Firma ausgehöhlt, verantwortungslose Waffengeschäfte getätigt, die Umwelt geschädigt oder sich sonstwie Vorteile verschafft und dadurch ernste Konsequenzen für andere ausgelöst. Es kommt hinzu dass oft die kleinen Delinquenten bestraft, aber die grossen Delinquenten rein gewaschen werden. Dadurch wird die Idee der „gerechten Strafe“ vollends zur Illusion.
Die Idee der gerechten Strafe ist eine Fiktion, die nicht verwirklicht werden kann.